Text

JENSEITS DER REGEL.

 

Bemerkungen zu den Arbeiten von Melanie Grocki.    

von Dr. Viola Weigel

Auszug aus dem Katalogbeitrag zu

"Melanie Grocki - formverloren | farbverhalten | flächenvermessen"

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Die Papierarbeiten von Melanie Grocki bestechen durch ihre pulsierende Energie. Farbe, Flächenform und Struktur treten auf kleinen und großen Blättern zu wandernden Flächen zusammen, die den Blick nicht mehr ruhen lassen. Die mal eckigen, mal organischen Strukturen scheinen auf Modellen komplexer Systeme zu beruhen, denen man als Betrachter/in zunächst einmal mit begrifflichen Mitteln der Wissenschaften außerhalb der Kunst beizukommen versucht, wie Entropie, Quantenchaos, morphologische Übergänge oder Algorithmen. Doch diese theoretischen Begriffe sind letztendlich nur Hilfskonstruktionen, die uns in der Betrachtung der Werke kaum weiterhelfen. Wir stehen schließlich vor raumbestimmenden, abstrakten Werken, die nicht nur unserer Wahrnehmung viel abverlangen, sondern auch – wenn wir einen Blick auf den Werdegang der Künstlerin sowie die Vorgeschichte der Aquarellmalerei werfen – einen Diskurs über dieses Thema andeuten.



[...] Von 2003 bis 2009 durchläuft sie zwei Kunstakademien, studiert bei Rolf-Gunter Dienst in Nürnberg, 2006 bis 2009 bei Gerhard Merz in München. Von Dienst hat sie den freien Umgang mit Farbe, Licht und abstrakter Form, von Merz die strenge, konsequente Architektonik einer Komposition in ihrem Werk verarbeitet. Von Anfang an setzt sie zeichnerische Techniken ein, Tinte, Filzstift und heute vorwiegend Aquarellmalerei, die aufgrund ihrer malerischen Qualitäten eine unvorhersehbare, tonige Flächengebung erzielen und damit der akkuraten Systemmalerei eigentlich konsequent zuwiderlaufen. Aber die Spannung von Ordnung und Zufall, Berechnung und Spontaneität auszuloten, scheint ein wesentlicher Antriebspunkt ihres konzeptuellen Ansatzes zu sein.


[...]


Nach welchen Regeln sind ihre Werke aus geometrischen Strukturen organisiert? Setzt sie wie Max Bill Regeln vorher fest, die sie dann durchspielt? Lässt sie sich vom Zufallsprinzip leiten, setzt sie vorgegebenes Farbmaterial ein, malt sie Werke nach Zahlen? Melanie Grocki liegt es fern, mit ihren Arbeiten Farbtheorien zu illustrieren, durch mathematische Algorithmen Bilder zu entwerfen (wie Max Bill) oder ähnlich Victor Vasarely optische Augentäuschungen zu erzeugen. Doch ist es verblüffend, wie sich ihre abstrakten Aquarell-, Tinte- und Filzstiftstudien mühelos verschiedenen künstlerischen Traditionen annähern, ohne einer wirklich nachzufolgen, etwa der geometrischen Abstraktion („Neo-Geo“), Minimal Art, Konzept-Kunst, Op Art, R. Lohse, Max Bill, Karl Gerstner, François Morellet, Bridget Riley, Ellsworth Kelly oder Sol LeWitt.


[...]


Entscheidend ist nun, wie Grocki mit den zahlreichen visuellen und kunsthistorischen Referenzen spielt und sie gegen den Strich bürstet. Indem sie in ihr Bildsystem immer einen Fehler der selbst gesetzten Regel einschmuggelt, eröffnet sie eine weitere Ebene der künstlerischen Auseinandersetzung, die auch das heutige Potenzial abstrakter Kunst kommentiert. Auf den ersten Blick logische Farbfolgen durchbricht sie lustvoll durch spontane Einfälle, einen Strich mal länger, mal kürzer zu setzen (S. 25) oder vaserely-ähnliche Strukturen durch unvorhersehbare Farbverläufe und auffallende Weißpartien (S. 21) wieder zu stören. Dieses, wie sie bemerkt, „bewusst irritierende System“ ihrer Werke ist auch notwendig, da sonst die Darstellung im einmaligen Effekt bald verpuffen würde. Aber so sind es gerade die diskursiven Qualitäten ihres Werks über die heutigen Möglichkeiten abstrakter Zeichnung, die die Unerschöpflichkeit von Kunst überhaupt zelebrieren.

ZU MEINER ARBEIT


Melanie Grocki

Aquarellfarbe, Pinsel, Stift und Faden sowie ein Bogen Papier und ein reduzierter Formenkatalog sind das Material, dessen ich mich bediene, um vernetzte Strukturen und rhythmische Formationen entstehen zu lassen.

Die Zeichnungen gehen aus initialen zufälligen Setzungen hervor, zumeist einem Schwarm gespritzter Punkte auf dem leeren Blatt. Im weiteren Tun wachsen sie zu organischen Systemen heran, die kalkulierte Störungen und zufällige Abweichungen einbeziehen und Feld für Zwischentöne und Entdeckungen werden. 

Schon kleine Veränderungen führen zu unvorhergesehenen Wendungen und verdeutlichen immer wieder das Moment der Freiheit eines offenen Ausgangs.

Jedes Bild ist auch ein Weltbild. Es ist individuell geprägt und in ständiger Veränderung begriffen. Jeder Mensch befindet sich in einer ständigen perzeptiven und kognitiven Auseinandersetzung mit der Welt, die ihm sowohl als erfahrbare Wirklichkeit begegnet als auch in ihrer imaginierten Form der gesellschaftlichen Entwürfe und kulturellen Narrative. Die kontinuierliche Arbeit an einer Haltung zur Welt und das Ringen darum sich ein Bild zu machen begründet die existentiell bedeutsame Dimension künstlerischen Tuns.



Ein Schwerpunkt meines Interesses liegt in dem Nachvollziehen der Prozesse, die eine Bildfindung bedingen. Durch eine zeichnerische Näherung an algorithmische Folgen, sich selbst konstituierende Strukturen und die gleichzeitigen, Grenzen suchenden Störungen dieser Systeme versuche ich die Einflussnahme von Automatismen und Prägungen, bewussten Entscheidungen, Abschweifungen und Zufällen aufzuspüren. Trotz der Reduzierung auf wenige Ausgangsentscheidungen, entwickeln sich im Tun schnell komplexe Strukturen die schon bei geringer Unterschiedlichkeit der Parameter und kleinen zufälligen Abweichungen zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Diese Tatsache und das Variantenreichtum, das sich bereits auf dieser basalen Ebene ergibt, sind für mich einerseits hinsichtlich der übergeordneten Frage nach der Entwicklung eines Verhältnisses zur Welt äußerst spannend und andererseits empfinde ich das künstlerische Arbeiten mit offenem bildnerischem Ergebnis und die quasi dialogische Auseinandersetzung mit einem selbstgeschaffenen Bildsystem als sehr reizvoll.


Die Beobachtung und Einordnung unserer Umgebung ist geprägt durch die Filter der sinnlichen Wahrnehmung und die kognitive Interpretation. In der bildnerischen Umsetzung schlägt sich das durch das Aufgreifen von Thematiken wie Mustererkennung, optisches Vexierspiel oder Schärfe-Unschärfe-Relation nieder.


Das Erreichen kognitiver Leistungsfähigkeit als Voraussetzung für Ich-Bewusstsein ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels einer kaum abzählbaren Menge einfacher Grundelemente und dem Ineinandergreifen von Verknüpfung, Synchronisation und Relation der verschiedenen Informationsstränge und Wahrnehmungsebenen. Diese Mechanismen lassen sich auch in der Entwicklung eines tatsächlichen künstlerischen Bildes anwenden. Auch hier ist es ein Ziel Struktur und Rhythmus zu finden, Ordnungsprinzipien zu entwickeln und eine dynamische Kartographie zu entwerfen aus Wiederholungen und modifizierten Varianten.


Öffnet man den Fokus auf umfassendere Systeme, wie beispielsweise gesellschaftliche Strukturen, physikalische Phänomene, globale Ökonomien, erhöht sich der Grad der Komplexität entsprechend der wachsenden Anzahl einflussnehmender Parameter, gleichzeitig sinkt die Berechenbarkeit. Und dennoch sind auch hier ähnliche Funktionsweisen und Analogien zu finden. Ein Ansatz die größere Unwägbarkeit in die Bildfindung miteinzubeziehen ist es, nicht auf dem leeren Blatt mit der Entwicklung einer Struktur zu beginnen sondern auf vorherige zufällige Setzungen zu reagieren. Die dadurch bewirkte Beschränkung der gestalterischen Möglichkeiten erfordert das Entwickeln angepasster Strategien um die nicht aus dem System resultierenden Elemente trotzdem organisch in dieses zu integrieren.


Diese Überlegungen versuche ich in den Zeichnungen umzusetzen. Tinte, Aquarellfarbe und Pinsel oder Kugelschreiber, sowie ein Bogen Papier und ein reduzierter Formenkatalog dienen dabei als Material komplexe Konstellationen auf der begrenzten Fläche zu entwickeln. Durch die Gleichzeitigkeit verschiedener formaler Prozesse, die Organisation der Formen, ihr Schwanken zwischen Autonomie und gegenseitiger Bedingung und die Verschränkung unterschiedlicher Ebenen wird mit diesen Mitteln die strukturelle Annäherung an Aufbau und Wirkungsweise eines Systems versucht, das in seiner Abstraktheit zwar nicht zu erfassen ist, von dem die zeichnerische Manifestation aber vielleicht eine Ahnung zu vermitteln mag.


BEYOND THE RULES.

Remarks on works by Melanie Grocki     

by Dr. Viola Weigel


excerpt from the catalogue essay to "Melanie Grocki - formverloren | farbverhalten | flächenvermessen"





The paper works by Melanie Grocki are striking and pulsating with energy. Their colour as well as two-dimensional shape and structure on small and large-sized paper appear on meandering planes that leave our gaze in perpetual motion. The structures are sometimes angular and at other times organic. They seem to be based on models of complex systems, which the viewer at first attempts to process conceptually in terms of science and beyond art, for instance, by reverting to entropy, quantum chaos, morphological transitions or algorithms. In the end, however, such theoretical concepts are merely aids and hardly assist us in our perception of the works. Abstract works confront us and define space in a way that is very challenging for our perception. Moreover, they imply a discourse about this theme, especially considering the artist’s background in the context of the pre-history of watercolour painting.



[...] From 2003 to 2009, Grocki graduated from two art academies. In Nuremberg, she studied with Rolf-Gunter Dienst and from 2006 to 2009, Gerhard Merz was her mentor in Munich. From Dienst she learned how to produce a free composition using colour, light and abstract form. Merz showed her how to refine the strict, methodical architecture of compositional structure within her work. From the outset, she relied on drawing techniques, ink and felt pen. Now, she mainly works with watercolour to achieve an unpredictable colouration of surface areas thanks to the painterly quality. In this instance, watercolours represent a deliberate contrast to accurate system painting. Yet one essential motif of her conceptual approach seems to be the exploration of creative tensions between order and arbitrariness or predictability and spontaneity.


[...]


Which rules organize the geometric structures defining her works? Does Grocki, like Max Bill, determine these beforehand and then playfully use them in her work? Is chance a guiding principle? Does she incorporate prescribed colour material? Does she paint some works by numbers? Melanie Grocki is not inclined to illustrate colour theories in her works, to devise compositions by means of mathematic algorithms (like Max Bill) or to produce optical deceptions of the eye in a similar way to Victor Vasarely. Yet it is intriguing to note how her abstract watercolour, ink and felt pen studies effortlessly approximate the various artistic traditions even if not actually following trends such as geometric abstraction (“Neo-Geo”), minimal art, concept art, Op art or artists like R. Lohse, Max Bill, Karl Gerstner, François Morellet, Bridget Riley, Ellsworth Kelly or Sol LeWitt.


[...]


The decisive factor now is how Grocki plays with the numerous visual and art-his- torical references and, as it were, makes her brush go against the flow. By repeat- edly smuggling into her pictorial system an error within her self-defined rules, she opens up another level of artistic debate, thereby also presenting a commentary on the potential to produce abstract art at the present time. She interrupts with gusto what at first sight seem to emerge as logical colour sequences with spontaneous innovations – using a single, longer stroke here or a shorter stroke there (p. 25), or disrupting structures in a similar way to Vaserely with the colours running in unpre- dictable directions and also striking white parts (p. 21). As Grocki herself remarks, this “consciously irritating system” within her works is also necessary because otherwise representation would vanish with the one-off effect. All in all, however, the discursive qualities of her work about the possibilities of abstract drawing today are precisely what celebrate the inexhaustibility of art in general.




Translation: Suzanne Kirkbright

von Dr. Susanne Ramm-Weber


Kunstwissenschaftlerin


Auszug aus ihrem Beitrag anlässlich der Ausstellung "FUEGEN + FLECHTEN" in der Badischen Zeitung von Freitag, 08.11.2019



[...]


Melanie Grockis Werk pendelt zwischen strenger Ordnung und Unordnung. So geht es ganz unzeichnerisch los. Mit Verve schleudert Grocki mit dem Pinsel Punkte auf ein Blatt, ein Chaos entsteht. Doch dann gibt sie diesem Zufallsbild einen eigenen Charakter, sucht darin eine Ordnung. Punkte werden zu Abstandshaltern, sie markieren die Breite des folgenden Abschnitts oder die Dicke des Strichs. Die Relativität zwischen Punkt und Linie macht das Bild aus. Der Punkt, so hat es einst Wassily Kandinsky in seinem Standardwerk "Punkt und Linie zu Fläche" beschrieben, ist die kleinste Einheit einer Linie.

Farben, die ein für das Auge vibrierendes Gemisch eingehen


Hinzu kommen Farben bei dieser Künstlerin, die miteinander ein für das menschliche Auge vibrierendes Gemisch eingehen, je nachdem welche Nachbarschaft sie haben. Verdichtung und Auflockerung kennzeichnen die Arbeiten systemimmanent. Nicht nur Bleistift, Aquarellfarben oder Straßenkreiden finden Verwendung in diesen Arbeiten, die Künstlerin benutzt auch Fäden, sozusagen dreidimensionale Linien, die sie über Strecken zu einem Bild verspannt. Im Erscheinungsbild atmen die Arbeiten, immer ist genügend Freiraum.

Die Bilder sind von Ecken und Kanten, von begrenzten Flächen, Streifen, Überlagerungen, bearbeiteten und unbearbeiteten Arealen geprägt. Gebilde formieren sich, erstrecken sich über das Blatt. Es sind sehr genaue und sehr feine Arbeiten, eine Kreisfläche kann sich verschmälern zu einem Oval und weiter reduzieren zu einer Linie. Mit diesen Verhältnissen beschäftigt sich eine sehr großformatige Arbeit, der ein geradliniges, genau ausgemessenes, dünn durchscheinendes Raster zu Grunde liegt. Lebendigkeit entsteht durch die Intensität der Farbe, von deutlich artikuliert bis zu ganz wässrig reduziert, so dass man meint, in manchen Kästchen sei nichts, bis man bei genauem Hinsehen dann doch eine hauchzarte Linie entdeckt.


Die Künstlerin schafft mit jeweils spezifischen Arbeitsweisen Werkgruppen, und in der Ausstellung sind Arbeiten aus den meisten Gruppen vorhanden, Synchronisationen, Klumpen, Verschachtelungen, Durchquerungen, Fäden, Bänder und Fächer, so nennt sie diese Werkgruppen, die in den vergangenen zwei bis drei Jahren entstanden sind.

Was die Künstlerin da macht, hat Hand und Fuß. Sie arbeitet mit großer Konsequenz.